• Villa Tugendhat
    Brünn I Tschechien

November 2023

Egal wieviel man sich davor eingelesen, egal wieviele Fotos man im Netz bereits
gesehen hat: Wenn man dann selbst davorsteht, ist man überwältigt von der Modernität
und Präsenz der Villa Tugendhat. Mit ihr hat Architekt Ludwig Mies van der Rohe Ende der 1920er
Jahre einen mehr als visionären Bau auf einen Hang im Nordosten von Brünn hingesetzt…

Ein bisschen ist es für mich ein dream-come-true, denn seit Jahren jage ich Besichtigungs-Tickets für die wohl bekannteste Villa Tschechiens nach, die bei ganz vielen Architektur-Begeisterten ganz oben am Zettel steht. Entsprechend schwierig auch, ein Ticket des beschränkten Kontingents zu ergattern – denn diese kann man nur online vorab (meist mit großem zeitlichem Vorlauf) und nicht vor Ort kaufen. Und dann kam auch noch die weltweite Corona-Pandemie – ein Besuch der Villa rückte damit noch mehr in weite Ferne. Aber im Sommer 2023 küsste mich Fortuna und ich ergatterte zwei Tickets für Ende November. Und nun stand ich also an einem frühen, kalten, windigen November-Nachmittag vor der Villa, und konnte es immer noch kaum glauben. Natürlich überpünktlich, denn nichts, gar nichts, sollte noch zwischen mich und die Villa kommen. Zeit genug also durch den großen Garten der Villa zu spazieren (was man übrigens auch gratis, ohne Ticket tun kann) und diese aus allen Perspektiven zu betrachten. Sieht sie von der Straßenseite her erst mal wie ein Bungalow aus, entdeckt man erst von der Gartenseite aus, wie elegant sie da auf dem Rücken eines Hügels liegt, lang hingestreckt. Und wenn man sie so sieht, dann denkt man, dass sie auch erst kürzlich fertiggestellt worden sein könnte, so modern, so zeitlos, so heutig kommt sie herüber.

Kein Wunder also, dass diese Bauhaus-Villa mit sagenhaften 1.250 m2 Nutzfläche nicht nur als das berühmteste Bauwerk der Moderne in Brünn (und in der Hinsicht hat Brünn einiges zu bieten) gilt, sondern überhaupt zu den wichtigsten und bedeutendsten Werken des deutsch-amerikanischen Architekten Ludwig Mies van der Rohe gezählt wird. Als ein Meilenstein moderner Architektur wird dieses Bauhaus-Juwel auch oft bezeichnet und in einem Atemzug mit anderen Ikonen der Architektur-Moderne genannt, wie etwa dem weltberühmten Haus Robie bzw. Haus Fallingwater von Frank Lloyd Wright, der Villa Savoye von Le Corbusier, der Sommer-Villa E-1027 von Eileen Gray an der französischen Cote d`Azur oder etwa dem Fabrikantenwohnhaus Schminke von Hans Scharoun in der deutschen Oberlausitz.

Was auch lohnt: Nicht nur durch den Garten der Villa Tugendhat zu spazieren, sondern auch den noch größeren, einem Park ähnelnden Garten der Villa Löw-Beer (1903/04 errichtet) zu besuchen. (Wer genügend Zeit im Gepäck hat, kann auch diese Villa besichtigen.) Die Besitzer der Villa, der Textillfabrikant Alfred Löw-Beer und seine Frau, waren die Eltern von Grete Tugendhat, der sie anlässlich ihrer Hochzeit mit dem Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat ein Teil ihres Grundstücks geschenkt hatten, damit die beiden dort oben auf dem Hügel ihr eigenes Haus errichten konnten. Übrigens: Wer wie wir pünktlich dran ist und Zeit überbrücken muss, kann dies auch im zwischen der Villa Tugendhat und der Villa Löw-Beer gelegenen Cafè im Garten tun.

Von einem geräumigen, modernen Haus soll Grete Tugendhat geträumt haben, mit klaren, einfachen Formen. Nichts Unnützes sollte herumstehen im Haus, alle Konzentration sollte auf das Haus selbst ausgerichtet sein. Dass sie für diese Wünsche in Ludwig Mies van der Rohe einen kongenialen Partner gefunden hat, wird einem klar, sobald man das Haus im oberen Eingangs-Geschoss betritt.

Angenehm, dass unser deutschsprachiger Guide uns nach einer kurzen allgemeinen Einführung zu Architektur und historischem Hintergrund selbständig durch die Räumlichkeiten streifen lässt. Schnell zerstreut sich die rund 20-köpfige Besuchergruppe zwischen den Schlafräumen, Kinderzimmern und Bädern, die sich im Eingangsgeschoss befinden. Was mich bereits auf den ersten Blick besonders beeindruckt: Die raumhohen Zimmertüren aus dunkel-rötlich-braunem Palisander, die den Räumen eine ganz besondere Eleganz und Großzügigkeit verleihen. Ganz besonders gefallen mir das Elternschlafzimmer und ein Raum, der wohl eine Art Studier/Arbeitszimmer war; von beiden hat man – über die davor liegende großzügige Terrasse hinweg – einen tolllen Ausblick auf die Stadt und vor allem die quasi gegenüber liegende Festung Spielberg. Noch einiges mehr fasziniert mich hier oben: Das Innenleben der Einbauschränke, kleine Design-Details an Lampen, Bäderarmaturen oder den Türen zur Terrasse. In diesem Bereich der Villa gibt es viel schönes Design zu entdecken, dem allerdings, ganz dem Stil des Bauhaus-Funktionalismus entsprechend, auch ein hohes Maß an Funktionalität abverlangt wurde.

Und dann geht es hinunter, über eine Treppe aus italienischem Travertin, in den Hauptraum der Villa. Und der raubt mir erst mal den Atem: So oft habe ich schon Fotos davon gesehen, aber nun ist es dennoch überwältigend in diesem Raum zu stehen. Genau in diesem Moment flutet die Sonne, die sich durch die Wolken dieses Novembertags gekämpft hat, den Raum förmlich mit Licht. Dass sie das kann, dafür sorgen die Glasfenster, die vom Boden bis zur Decke auf drei Seiten, die Wohnetage umgeben. Alles scheint hier zu fließen. Magisch, denke ich mir, und stehe da wie angewurzelt, nur meine Augen wandern durch den Raum, der – gemeinsam mit dem Wintergarten – beeindruckende 280 Quadratmeter umfasst. Noch ein Detail in Sachen Panorama-Fenster: Diese wurden im Rahmen einer umfassenden Restaurierung originalgetreu wiederhergestellt und lassen sich somit heute wieder elektrisch im Boden versenken. Und noch einiges mehr ist heute wieder voll funktionstüchtig, wie unser Guide erzählt: Nicht nur die Heizung, sondern z. B. auch Klimaanlage, Speiselift und Türsprechanlage.

Mein Blick fällt auf auf die freistehende Wand, die den Arbeits- und Lesebereich vom Wohnbereich abtrennt: Aus Onyxmarmor (aus Marokko) ist dieser und hat keinerlei statische Funktion, erzählt unser Guide. Und just, als dieser auch erwähnt, dass dieser „unechte Onyx“ durchscheinend ist und, wenn die Sonne darauf scheint, intensiv orange-rot leuchtet – passiert genau dies, im untersten rechten Eck der Wand. Was für ein Spektakel. Angeblich war es ein ungeplanter Effekt, was man irgendwie gar nicht glauben kann, wenn man realisiert wie durchdacht, bis ins letzte Detail, hier alles ist.

Auch mein Interior-Design-Herz schlägt in diesem Raum höher: Die froschgrünen Barcelona-Sessel sind der perfekte farbliche Kontrast zu dem hellen Teppich, auf dem sie stehen und dem elfenbeinweißen Linoleum, mit dem dieser Raum ausgelegt ist. Ins Auge fällt auch der Couchtisch mit einem kreuzförmigen, verchromten Gestell und darauf aufliegender Glasplatte – ein weiterer Design-Klassiker, der hier seinen Ursprung genommen haben soll. Apropos, hier findet man zahlreiche von Mies van der Rohe und der Designerin Lilly Reich (sie wurde 1920 als erste Frau in den Vorstand des Deutschen Werkbunds aufgenommen) entworfene Möbelstücke, zum Beispiel einen Freischwinger, der längst ein Design-Klassiker ist und bis heute produziert wird, der weltbekannte Brno Chair.

Im an den Wohnraum länglich anschließenden Wintergarten kann ich mir dann einen tiefen Seufzer nicht verkneifen: Flamingo-Blumen und vieles anderes wuchert hier in der milden November-Sonne glücklich vor sich hin. Wie glücklich wäre ich erst, wenn ich so einen Wintergarten mein Eigentum nennen könnte.
Soviele Details faszinieren in diesem Raum, seiner ganz eigenen Atmosphäre kann man sich kaum entziehen. Das Licht, die Blickachsen, die Großzügigkeit, der Ausblick: Ich kann mich kaum losreißen. Noch einmal werfe ich einen Blick durch die raumhohen Fenster hinaus auf den Garten und hinüber zur Festung Spielberg.

Vorbei am mehr als großzügigen Ess-Bereich geht es dann in die Küche, für mich definitiv ein weiteres Highlight: sie ist ebenfalls minimalistisch und stimmig zum restlichen Haus ausgestattet, mit einem wunderschönen Ausblick auf Garten und Richtung Festung Spielberg.

Wie glücklich die Bewohner:innen, Grete und Fritz Tugendhat und ihre beiden Kinder hier nach ihrem Einzug im Jahr 1930 wohl gewesen sein müssen. Und wie tragisch, dass es so ein kurzes Glück gewesen ist; denn nur knappe acht Jahre lebten die Tugendhats in ihrem Traumhaus. 1939 wurde Brünn vom NS-Regime besetzt und gehörte bis 1945 zum Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Glücklicherweise hatten die jüdischen Familien Löw-Beer und Tugendhat bereits Ende 1938 eine Entscheidung getroffen, die ihnen ihr Leben rettete: Sie hatten beschlossen die Tschechoslowakei zu verlassen und ins Exil zu gehen, vorerst in die Schweiz, von wo aus sie dann nach Venezuela emigrierten. Sich selbst konnten sie so retten, ihr gesamtes bisheriges Leben aber mussten sie damit, traurig genug, hinter sich lassen; leider erhielten sie ihr Brünner Zuhause auch nie wieder zurück. Grete Tugendhat soll Brünn und ihre ehemalige Villa nach ihrer Flucht vor den Nazis erstmals wieder im Jahr 1967 besucht haben.

Wie es mit der Villa in den folgenden Jahrzehnten weiterging, kann man ausführlich auf der Website der Villa Tugendhat nachlesen. 1992 ging in der Villa Tugendhat jedenfalls ein Treffen mit historischer Bedeutung über die Bühne: Hier wurde der Vertrag über die Teilung der Tschechoslowakei unterzeichnet. 1994 wurde die Villa der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, im August 1995 zu einem Nationalen Kulturdenkmal erklärt und 2001 auf in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Nach einer umfassenden Renovierung wurde die Villa 2012 neu eröffnet. Bei dieser Restaurierung waren sowohl das Gebäude als auch der Garten wieder in ihrem ursprünglichen Zustand (entsprechend ihrer Fertigstellung im Jahr 1930) wiederhergestellt worden.

Da wir die „extended Tour“ gebucht haben, die rund 90 Minuten dauert, geht es für uns dann noch einmal eine Etage tiefer, über eine Wendeltreppe hinunter, quasi in den Bauch des Hauses, zu den Technik-, Lager- und Hauswirtschaftsräumen – und vor allem die Technikräume, wie der Kesselraum oder der Maschinenraum für die versenkbaren Fenster, sind durchaus beeindruckend. Weiters befindet sich hier eine Dunkelkammer, war Fritz Tugendhat doch ein leidenschaftlicher Fotograf und Amateurfilmer. Darüber hinaus gibt es im Erdgeschoss auch eine kleine Ausstellung mit interessantem Detailwissen zum Architekten Mies van der Rohe, der Familie Tugendhat und deren Leben in der Villa, sowie einen kleinen Museumsshop, in dem man auch einen Fotopass erwerben kann – denn nur mit dieser Lizenz ist es erlaubt, im Haus Fotos zu machen. (Der Guide weist aber ohnehin auch vor der Besichtigung darauf hin.)

Als wir die Villa schließlich verlassen, spiegelt sich der Sonnenuntergang in deren Fenstern. Ok, denke ich mir, Highlights von Anfang bis zum Ende unseres Besuchs. Und eines kann ich auch nicht verleugnen: Wohnen definiert sich für einen selbst irgendwie neu, wenn man dieses Haus erlebt hat.

Stilgerecht übernachten in Brünn? Na klar, im Bauhaus-Juwel Hotel AVION im Brünner Stadtzentrum
I Das Looshaus im niederösterreichischen Payerbach: Gut schlafen und essen in einem Landhaus aus den 1930er Jahren 


Villa Tugendhat

www.tugendhat.eu
Černopolní 45 I 613 00 Brünn, Tschechien

 

 Dies ist ein unbeauftragter und unbezahlter Blog-Beitrag, mit einer persönlichen Empfehlung von Herzen!

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Auch noch gut zu wissen:

Tickets für die Führungen sollte man unbedingt online vorab erwerben, die Führungen sind allerdings meist auf Monate hinaus ausgebucht. Tickets kann man an bestimmten Sales-Tagen innerhalb eines bestimmten Zeitslots und dies wiederum dann für einen bestimmten Zeitraum erwerben – wir haben z. B. im August Tickets für Ende November ergattert. Tipp: am Tag der Verkaufseröffnung unbedingt rechtzeitig vorab einloggen auf der Website, denn die Tickets sind oft innerhalb weniger Momente ausverkauft.

Einfach bei der Villa auf gut Glück vorbei zu schauen, macht daher keinen Sinn – außer man möchte ohnehin nur den Garten und somit auch nur von außen die Villa besichtigen. Das kann man gratis, ohne Führung, zu den Öffnungszeiten der Villa. Gratis kann man auch die kleine Ausstellung im Untergeschoss besichtigen, der Eingang dazu liegt am Weg in den Garten (links, gleich nach den Treppen, die in den Garten führen). Eine virtuelle Tour durch die Villa gibt es übrigens hier.

Thema Parken, falls man mit dem Auto kommt: Am Wochenende ist Parken hier kein Problem und auch gratis. Unter der Woche ist es vermutlich besser das Auto in einer Parkgarage im Zentrum Brünns stehen zu lassen und zu Fuß (ca. 30 Gehminuten) oder mit dem Taxi zur Villa zu kommen. (Das etwas komplizierte Parkgebühren-System für öffentliches Parken in Brünn habe ich ehrlich gesagt nicht ganz durchschaut…).

Wer zu Fuß zur Villa kommt, kann den Garten übrigens auch via Villa Löw-Beer betreten.

Eine persönliche Empfehlung zum Schluss: Wer Ende November eine Tour bucht, kommt, so man eine 90-minütige Führung, bucht, die um 14:00 Uhr beginnt, danach auch noch in den Genuss eines wunderbaren Sonnenuntergang-Blicks auf die Brünner Festung vis à vis. Und: unbedingt, wenn möglich, eine extended Tour buchen – sie führt innerhalb von 90 Minuten durch alle Geschosse der Villa, auch in die Technikräume, was durchaus spannend ist.