Sie liegt nur einen Katzensprung vom apulischen Valle d`Itria entfernt und darf sich 2019 mit dem Titel
"Kulturhauptstadt Europas" schmücken: Die Stadt Matera in der süditalienischen Region Basilikata. Also machen wir auf unserer Apulien-Reise einen Abstecher in die Nachbarregion und schon geht es vorbei an goldgelben Getreidefeldern und unzähligen Stein-Trulli zur berühmtesten Höhlenstadt der Welt...
Und dann stehen wir oben in der Neustadt von Matera und sind unschlüssig, wie wir uns die Altstadt, die zu einem großen Teil aus Höhlensiedlungen, den "Sassi", besteht und uns hier zu Füßen liegt, erschließen sollen. Denn vor uns erstreckt sich ein beeindruckend großes steinernes Häusermeer, das undurchdringbar wirkt. Von hier oben sind keine Straßen oder Gassen auszumachen, wer sich in dieses Felsen- und Häuserlabyrinth begibt, den spuckt es vielleicht nie wieder aus. Dann entdecken wir einen Wegweiser, der von der Via del corso über ein paar steile Treppen hinunter führt, in den "Sasso Barisano" – und wir entscheiden einfach drauf los zu gehen und die Stadt zu entdecken, ohne Stadtplan, ohne google maps, einfach so.
Es ist wie so oft in der Geschichte die Lage, die diesen Ort für Siedler so attraktiv gemacht hatte: Ein Tuffsteinplateau, schwer einzunehmen, und darunter liegt eine Schlucht mit einem Bach, der Zugang zu Wasser war also garantiert. Bereits ab 8000 vor Christus sollen sich in Matera Menschen angesiedelt haben. So richtig und dauerhaft besiedelt wurde die Gegend allerdings erst im 6. bzw. 7. Jahrhundert und wie so oft waren es Mönche – in diesem Falle aus Kleinasien –, die hier eine Vorreiterrolle einnahmen. Ihnen folgten nach und nach Bauern und Handwerker. Im 11. Jahrhundert übernahmen die Normannen die Herrschaft und die Siedlung dehnte sich weiter aus, hinunter in die Schlucht. Damit entstanden die Höhlensiedlungen in Sasso Barisano und Sasso Caveoso.
Von der nationalen Schande zum Stolz der Region
Wir steigen also erst mal hinunter in den Sasso Barisano – der Sasso Caveoso liegt südlicher und ist älter –, der vermutlich so heißt, weil er in Richtung der apulischen Küstenstadt Bari ausgerichtet ist. Und man kann es sich kaum vorstellen, dass hier noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts Menschen in den Höhlen der Felsen gelebt hatten, meistens in bitterer Armut und von Krankheiten geplagt, ohne Strom und fließendes Wasser. Licht war hier ein rares Gut, die Luft schlecht und das ergab beste Voraussetzungen für Krankheiten, die sich hier schnell verbreiten konnte. "La vergogna d`Italia", die Schande Italiens, wurde Matera damals genannt und ein paar Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wurde endlich beschlossen, dass die unzumutbaren hygienischen Lebensverhältnisse dieser Menschen endlich verbessert werden mussten. Also wurden die Höhlen geräumt, die rund 15.000 Einwohner umgesiedelt.
In den 80er Jahren begannen die Bewohner der Stadt die Sassi zu restaurieren, 1993 wurden die Siedlungen von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt. Die "vergogna", die Schande, war damit Geschichte, nun sprach man vielmehr von "orgoglio", Stolz. Seit vielen Jahren wird nun an jedem Eck restauriert oder neu gebaut: Restaurants, Cafès, kleine Hotels, B&Bs und Künstlerwerkstätten – Matera ist mittlerweile zu einem bekannten Tourismusziel geworden und die Stadt trägt dieser Entwicklung Rechnung. Noch hält sich das Ganze in Grenzen, wie wir finden, es wird hochwertig und geschmackvoll saniert, man sieht vor allem kleine Hotels – aber mehr gibt die Struktur der Stadt in den Sassi Gott sei Dank auch nicht her. Möge es so bleiben, hoffen wir und die Stadt von Overtourism verschont bleiben. Wir sind in Matera in den schmalen Gassen jedenfalls fast alleine unterwegs, was allerdings auch an der Nebensaison liegen mag.
Schließlich stossen wir auf die breite Via Madonna delle Virtù, die um die Stadt herum führt und einen guten Ausblick auf die Schlucht gibt, an der Matera liegt (Torrente Gravina) und die Höhlen, die auf der anderen Seite der Schlucht in die Felswände gehauen wurden. Wenn man mehr Zeit im Gepäck hat, kann man in die Gravina hinunter wandern und von dort hinauf zum Belvedere an der Murgia Timone. Allerdings ist der Bach, der dafür überquert werden muss, nicht immer passierbar, daher sollte man sich sicherheitshalber vorher bei der Touristeninformation erkundigen.
Wir laufen die Via Madonna delle Virtù in südlicher Richtung entlang, um dann bei einer der nächsten Gelegenheiten über die rechts liegenden Treppen wieder hinauf zu steigen, Richtung Dom.
Über steile Treppen und durch kleine Gassen geht es nun hinauf zum Dom, der inmitten der Civita liegt, so heißt das direkt an ihn grenzende Gebiet, in dem im 6. Jahrhundert Materas Geschichte seinen Lauf genommen hatte. Geradezu idyllisch ruhig ist es hier, außerdem ist Mittagszeit und alle haben sich in die kühlen Räume hinter dicken Mauern zurückgezogen. Wir steigen in der Hitze Treppe und Treppe hinauf und dann liegt er vor uns, nein, vielmehr thront er hier, der Dom von Matera...
Ganz oben, auf dem höchsten Punkt der Stadt, zwischen den beiden Sassi, steht der Dom (Cattedrale della Madonna della Bruna e di Sant’Eustachio), im 13. Jahrhundert im apulisch-romanischen Stil erbaut und 1270 vollendet. Nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten wurde die Kirche, die seit 1962 zusätzlich den Titel einer Basilica Minor trägt, 2016 erneut geweiht.
Die helle Fassade leuchtet in der Sonne und bevor wir uns ins kühle Kircheninnere verziehen, lassen wir den Dom noch auf uns wirken, der die Piazza beherrscht und irgendwie auch die Stadt. Kein Wunder, denn genau das war auch der Plan seiner Erbauer: Die neue Kirche sollte nicht nur die Häuser in der nahen Umgebung, sondern auch die beiden Täler am Fuße der Sassi dominieren, lesen wir in unserem Kultur-Reiseführer. Das hatte seinen Preis: Denn damit dies möglich war, musste der Felsuntergrund um mehr als sechs Meter angehoben werden. Was für ein Aufwand, vor allem mit den damals zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmitteln. Diese Stadt lässt uns einmal mehr staunen.
Besonders schön sind die Tore an der Außenfassade, vor allem das Löwentor, das zwei gemeißelte Löwen, auf Podesten und Stützsäulen sitzend, zeigt und das große Rosettenfenster, über dem der Erzengel Michael wacht.
Was wir nun sehen, hat gute Chancen es auf meine Top-15-Liste der schönsten Kirchen in Europa zu schaffen: Warum die Architektur und Kunst einer Kirche einen beeindruckt, lässt sich ja nicht immer mit konkreten Fakten belegen, meist ist es der Gesamteindruck, der einen gefangen nimmt – oder eben auch nicht. Der Dom von Matera überzeugt jedenfalls, zumindest mich. Mit einer wunderschönen Holzdecke, die allerdings erst im 19. Jahrhundert von einem kalabrischen Maler mit drei Gemälden ausgestattet wurde. Mit wunderschönen Stuckarbeiten an den Säulen und einem Fresko im byzantinischen Stil, das die Madonna della Bruna mit dem Jesuskind zeigt. Schön ist auch die Renaissancekapelle Mariä Verkündigung, mit einer aufwändigen Kassettendecke und Nischen in den Wänden. Nicht zuletzt überzeugt mich die Kirche auch mit dem hölzernen Chorgestühl aus dem 15. Jahrhundert.
Bevor wir uns wieder in das Gassengewirr werfen, lassen wir unsere Augen noch einmal über das Häusermeer wandern, denn von hier oben hat man einen großartigen Ausblick, auf beide Höhlensiedlungen. Und es wundert uns nicht, dass ausgerechnet hier zahlreiche Filme komplett oder zumindest teilweise gedreht wurden – die Stadt ist eine einzige Filmkulisse. Das muss sich wohl auch Mel Gibson gedacht haben, der den Großteil der Außenszenen seines Films "Die Passion Christi" in den Sassi, in der Schlucht und der nahen Umgebung gedreht hat. Wie eine überdimensionale Weihnachtskrippe sieht Matera aus, sagen viele Menschen und damit haben sie nicht unrecht. Eine Krippe in der heute rund 60.000 Menschen leben, rund 2.000 davon in den Sassi.
Dann geht es wieder hinunter und prompt landen wir in einer Sackgasse. Also wieder hinauf über unzählige Treppen und an einer anderen Stelle abzweigen als zuvor. Längst haben wir aufgehört über die Anzahl der Treppen, die wir heute bereits bewältigt haben, nachzudenken, vielmehr traben wir in stiller Einmütigkeit mit meist gesenktem Kopf – bloss nicht stolpern – nebeinander her, um zwischendurch zu stoppen und unsere Augen über ein weiteres überwältigendes Panorama gleiten zu lassen...
Über besonders steile Treppen geht es nun hinunter und wir sind nicht sicher, ob wir nicht wieder in einer Sackgasse landen, aber nein, wir haben Glück und finden uns plötzlich dort wieder, wo unsere Tour begonnen hatte: In der Via Fiorentini im Sasso Barisano. Von dort steigen wir wieder hinauf Richtung Via Ridola, in die Oberstadt und peilen unser nächstes Ziel an, die Piazza Pascoli, denn von hier aus soll man den besten Ausblick überhaupt auf die Sassi haben.
Und das stimmt... denn auch hier liegt uns die Altstadt von Matera beeindruckend zu Füssen. Neben uns steht ein alter Mann, auch er blickt hinunter auf das Häusermeer. Ob er von hier ist, wollen wir wissen. Ja, nickt er. Ist es komisch in seiner Stadt, in der lange die Armut zu Hause war, jetzt so viele Touristen herumlaufen zu sehen? All die schicken Bars und kleinen Hotels, die vielen Shops, wie fühlt sich das für ihn an? Er zuckt mit den Schultern und murmelt, dass er sich daran gewöhnt habe. Und dann erzählt er uns von seiner harten Kindheit und Jugend in Matera, vom frühen Verlust der Mutter, wie er alleine mit seinen Geschwistern bei seinem Vater aufgewachsen ist, in einem kalten und ungemütlichen Haus, das in den Fels geschlagen worden war. Und vom Vater, der ihn schließlich in eine Heirat zwingen wollte. Aber da habe er aufbegehrt, erzählt er, denn ich muss dann ja mit dieser Frau mein Leben verbringen, da habe ich nicht mitgespielt... Ein anderer Einblick in das Leben in dieser Stadt. Er nickt uns freundlich zu, buona serata, signore, und dann ist er auch schon weg.
Weißt du was, höre ich meine Freundin Barbara sagen, lass uns da auch noch runter gehen, das muss der Sasso Caveoso sein. Und da muss sie mich nicht lange überreden. Noch einmal steigen wir hinunter, durch schmale Gassen, vorbei an kleinen Kirchen, über steile Treppen, hinauf zu einem Felsen, von dessen Plateau wir noch einmal eine ganz andere Aussicht auf die Stadt bekommen. Wir setzen uns auf ein Steinmäuerchen und lassen unsere Augen wandern: Da oben waren wir, dort oben beim Dom waren wir, da unten waren wir und dort oben waren wir auch. Ein Blick auf den Schrittmesser am Handy zeigt: an die 14 Kilometer sind wir gelaufen und das witzige daran ist, man merkt es irgendwie kaum – zu viel gibt es hier zu sehen, als dass Müdigkeit aufkommt. Aber jetzt reicht es, wir sind reif für das beste Eis der Stadt und das entdecken wir ganz zufällig.
Und hier haben wir es gefunden, das beste Eis der Welt: Im i Vizi degli Angeli (in der Via Ridola 36) gibt es das beste Pfirsicheis der Welt, ungelogen und unbestritten. Wir strecken die Beine aus, jetzt spüren wir die Kilometer doch noch in den Beinen. Aber dieses Eis, das lässt einen alles vergessen...
destination
MATERA
Die Stadt Matera, die zu einem erheblichen Teil aus Höhlensiedlungen, den Sassi, besteht, liegt in der süditalienischen Region Basilikata und ist Hauptstadt der Provinz Matera. Heute leben hier rund 60.000 Menschen. Seit 1993 gehören die mittlerweile weltbekannten Sassi zum Unesco Welterbe. Für das Jahr 2019 wurde Matera – als erste Stadt Süditaliens überhaupt – zur "Kulturhauptstadt Europas" ernannt.
Erreichbarkeit
Am schnellsten ist Matera von der apulischen Stadt Bari aus erreichbar. Von dort gelangt man mit dem Auto in ein bisschen mehr als einer Stunde nach Matera. Alternativ kann man auch mit der Bahn nach Matera fahren: Vom Hauptbahnhof Bari bis nach Matera braucht es ca. 2 Stunden, die Züge verkehren (außer an Feiertagen) stündlich.
gut schlafen
Wir haben MATERA nur eine eintägige Stippvisite abgestattet, aufgefallen sind uns dabei aber einige Hotels und B&Bs, die uns gefallen hätten:
Il Palazzotto - Residence & Winery: Historische Felsgewölbe mit modernem, geschmackvollem Interieur. Inhaberin und Architektin Katia Vitale zeigt, wie es geht.
La Dimora de Metello: Modernes, minimalistisches Interieur trifft auf historische Bausubstanz. Schön!
Palazzo del Duca: Muss ich persönlich zwar nicht haben, aber eine der Suiten verfügt sogar über einen privaten Höhlen-Indoor-Pool.
gut essen & trinken
Beim Service musste man ein wenig Geduld aufbringen, die Pasta, die dann auf den Tisch kam, war aber sehr gut...: Ristorante Donna Bruna (Via Madonna delle Virtù, 29, 75100 Matera)
Angeblich gibt es hier den besten Kaffee der Stadt, fesch ist das Lokal auf jeden Fall: Caffè Ridola
Bestes Eis in Town: Definitiv im I Vizi degli Angeli (in der Via Ridola 36). Meine Empfehlung: das Pfirsich-Eis probieren! Und auch wenn es nichts zur Sache tut: Was für ein wunderwunderschöner bunter Fußboden in dieser Gelateria. (Schockverliebt.)
Lesetipp
Wer sich tierfergehender mit Matera beschäftigen möchte, der ist mit dem Kalabrien/Basilikata Kunst Reiseführer (2011) aus dem Dumont Verlag bestens bedient.