Wer an das Piemont denkt, der hat zumeist Turin, die Trüffelstadt Alba oder
aber auch unendliche, sattgrüne Weinberge vor Augen. Stimmt ja auch alles, aber: Es gibt
durchaus auch noch kleine Juwele, die nicht so bekannt sind – und mehr als wert entdeckt zu werden.
Ist Novara ein solches Kleinod? Definitiv…
Rund 50 Kilometer nordwestlich vom betriebsamen Mailand und rund 100 Kilometer nordöstlich der Piemont-Hauptstadt Turin liegt die 100.000-Einwohner:innen-Stadt Novara, mitten in einem der größten Reisanbaugebiete Europas. Wer Novara besucht, der fühlt sich in mancher Hinsicht an deren berühmte Nachbarinnen Turin und Mailand erinnert: Denn auch diese elegante Stadt blickt auf eine lange Geschichte zurück, bietet ein gut erhaltenes historisches Zentrum, das entlang breiter „corsi“, teilweise mit schönen Arkadengängen, zum Flanieren einlädt und beeindruckende Sakralbauten beherbergt. Und dann wäre da noch die Sache mit der unübersehbaren Kuppel am Turm der Basilica San Gaudenzio… (aber dazu später mehr). Und dennoch: Man tut Novara Unrecht, wenn man es nur auf Gemeinsamkeiten mit Turin oder Mailand reduziert. Denn die Hauptstadt der Provinz Novara ist zudem – zumindest im Gegensatz zu Mailand – ziemlich entspannt: Keine Spur von hastenden Menschen, hier gibt Gelassenheit den Ton an. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Stadt eben immer noch etwas unter dem Radar der meisten Reisenden fliegt und somit immer noch eine Art Geheimtipp ist. (Wobei, Jazz-Begeisterten ist Novara aufgrund seines sehr bekannten Jazz-Festivals jedenfalls ein Begriff.) Hierher kommt man eher, wenn man sonst schon alle berühmten Ziele im Piemont abgeklappert hat, die man als Piemont-Reisende/r so auf dem Zettel stehen hat. Schade! Denn Novara ist nicht nur dann, sondern jedenfalls einen ausgiebigen Besuch wert…
Wer sich durch die Straßen der Innenstadt treiben lässt (am besten mit dem Startpunkt Piazza Martiri della Libertà), dem fällt wohl eines auf: Novara ist ein Kaleidoskop unterschiedlichster Architekturstile, einen mittelalterlichen Turm sieht man da neben Renaissance-Bauten, elegante Arkaden nahe barocken Kirchen. Und von Eleganz haben die Bürger:innen Novaras wohl auch immer schon etwas verstanden: Das wird einem spätestens klar, wenn man die Via Fratelli Rosselli entlang spaziert, wo sich elegante Palazzi aneinander reihen.
Mehr als nur eine kleinere Ausgabe der Turiner Mole Antonelliana...
Ihn erspäht man an vielen Stellen der Stadt schon von weitem: den 121 Meter hohen Kuppelturm der frühbarocken Basilica San Gaudenzio, der die Skyline der Stadt dominiert. Irgendwie kommt uns dieser Kuppelturm bekannt vor und dann dämmert es uns: Der sieht ja glatt aus wie die Mole Antonelliana in Turin. Kein Zufall, denn der hoch aufragende Vierungsturm mit Kuppel wurde von Architekt Alessandro Antonelli entworfen, der auch für die Mole Antonelliana in Turin verantwortlich zeichnete. Apropos, Turm und Kuppel von San Gaudenzio sind zwar kleiner und schlanker ausgefallen als jene der Mole in Turin, aber dafür war sie Entwurf Nr. 1 von Antonelli. Man könnte also auch sagen, dass der damals noch junge Stararchitekt des 19. Jahrhunderts in Novara ein wenig geübt hat für die Mole Antonelliana, die rund 20 Jahre später nach seinen Entwürfen errichtet wurde…
Außen streng klassizistisch, innen oho!
Highlight Nr. 2: Der Dom von Novara, die Cattedrale di Santa Maria Assunta aus dem 19. Jahrhundert an der Piazza della Repubblica, errichtet auf den Grundmauern einer frühchristlichen Basilika. Wer Neoklassizismus mag, dessen Herz wird hier definitiv hüpfen, denn der Dom kann Klassizismus, und wie. Und apropos, auch hier hatte Alessandro Antonelli seine Finger im Spiel, nämlich beim Umbau im Jahr 1854. Unbedingt sollte man den Dom auch betreten, denn sonst entgehen einem die Fresken novaresischer Künstler aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert. Überhaupt ist der Innenraum ziemlich beeindruckend, was man bei klassizistischen Kirchenbauten nicht unbedingt immer erwartet – zumindest ich nicht. Und apropos Gemälde, dem bekanntesten Renaissance-Maler des Piemonts, Gaudenzio Ferrari, begegnet man hier auch einmal mehr (wie auch vielerorts im hübschen Bergstädtchen Varallo unweit des Ortasees).
Toppen kann das Gesehene dann noch das Baptisterium (mit frühchristlicher Architektur), das genau gegenüber vom Dom-Portal liegt: Bereits im 5. Jahrhundert n. Chr. errichtet, wurde das achteckige Gebäude im 11. Jahrhundert erweitert, um einen Aufbau samt Kuppel. Beeindruckend auch die darin befindlichen Fresken, mit Szenen aus der Offenbarung des Johannes. Wer diese Werke geschaffen hat, ist allerdings nicht bekannt.
Ein regelrechtes Idyll mit duftendem, üppigst wucherndem Lavendel und farbenprächtigen, duftenden Rosen ist der zum Dom gehörige Kreuzgang. Spaziert man durch dessen Arkadengänge, gibt es Fresken-Fragmente und schöne antike Sarkophage zu entdecken. Aber am besten einfach nur die Stille genießen, die nur von den summenden Bienen im Lavendel durchbrochen wird… (Zugang zum Kreuzgang entweder durch den Dom, durch die Tür ganz rechts hinten, oder durch die kleine Gasse Vicolo della Canoninca – so gelangt man auch in die Musei della Canonica del Duomo.)
Moderne Kunst im mittelalterlichen Broletto
Es bietet sich an, sich auch noch den mittelalterlichen Broletto-Gebäudekomplex anzusehen, schließlich liegt dieser genau gegenüber dem Dom. Er setzt sich zusammen aus den einstigen Regierungsgebäuden der Stadt, dem Palazzo del Podestà, dem Palazzetto dei Paratici, dem Palazzo della Referendaria und dem Palazzo dell`Arengo. Heute beherbergt der Komplex die Galerie für moderne Kunst „Paolo und Adele Giannoni“, die eine umfangreiche Sammlung von Gemälden und Skulpturen verschiedener Schulen italienischer Künstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beinhaltet, darunter Giovanni Fattori, Plinio Normellini, Angelo Morbelli, Felice Casorati und Giovanni Segantini. Unbedingt ansehen sollte man sich auch die Sala dell'Arengo, in der wertvolle Fresken (aus dem 15. Jahrhundert) ausgestellt sind, die aus einigen Kirchen der Region abgenommen und wiederhergestellt wurden.
Von Visconti bis Sforza: Berühmte Bewohner des Castello di Novara
Wer jetzt noch Energie und Zeit hat, für den könnte sich ein Besuch des Castello di Novara lohnen: Dieses, errichtet Ende des 13. Jahrhunderts, liegt am südwestlichen Rand des Stadtzentrums und wird von Kennern sofort mit einem klingenden Namen in Verbindung gebracht. Nämlich mit dem der Visconti, denn sie waren es, die die Burg im 14. Jahrhundert zu einer imposanten Festung ausbauten. Es folgte ein Besitzerwechsel, die Burg fiel an die Familie Sforza, und es folgte ein weiterer Umbau, wie das so ist bei neuen Besitzern. Und ja, wer bei diesem Namen an Mailand denkt, der ist auf dem richtigen Pfad, denn dieser Familie gehörte auch das mächtige Castello Sforzesco in der Hauptstadt der Lombardei. Seit 2016, nach einer längeren Restaurierung, ist die Burg wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Der Schlosspark und auch der Innenhof können übrigens gratis besichtigt werden. (Achtung: Derzeit, Stand Mai 2025, ist das Castello allerdings aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen, voraussichtlich bis Mitte August 2025.)
Shopping-Genuss und gut essen in Novara
Auch abseits von Kultur macht Novara eine gute Figur: Shopping wird einem hier ziemlich leicht gemacht, es gibt es eine Vielzahl hübscher Geschäfte, viele davon offensichtlich eigentümergeführt und damit mit Mode abseits der Stange. Und wie in Turin hindert einen auch in Novara dank vieler Laubengänge bei Schlechtwetter nichts an einem Schaufensterbummel.
Zum Schluss noch ein kulinarischer Tipp: Wo, wenn nicht in Novara sollte man Risotto essen? Vielleicht sogar ein Gorgonzola-Risotto? Denn immerhin liegt die Stadt inmitten eines der größten Reisanbaugebiete Europas und gilt die Provinz Novara als Zentrum der Gorgonzola-Produktion. Besonders gut passt dazu natürlich ein Rotwein aus dem Piemont...
Alles begann in Novara: Campari, eine Erfolgsgeschichte
Campari-Fans könnten in Novara aber auch zu diesem Aperitivo greifen, denn die Campari-Geschichte begann hier mit einer kleinen Bar: Diese kaufte Gaspare Campari 1860 und entwickelte neue Rezepte für einen bitteren Likör. Zwei Jahre später übersiedelte Gaspare Campari mit seinem Unternehmen nach Mailand. Dort eröffnete er das „Café Campari“, zuerst an der rechten Seite des Mailänder Domplatzes, dann in der weltberühmten Galleria Vittorio Emanuele. Unterhalb seines Cafès stellte Campari nun seinen eigenen Bitterlikör her, in einer kleinen Brennerei. Als das Cafè 1920 geschlossen wurde, konzentrierte sich die Familie Campari auf die Likör-Produktion. Wer heute einen echten Campari trinken will, kann dies z. B. sehr stilvoll in der bekannten Mailänder Bar Camparino in der Galleria Vittorio Emanuele II tun. Oder eben in Novara. In diesem Sinne: Cin cin, Novara!
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Hier gibt es noch mehr Piemont am Blog:
Das bezaubernde Orta San Giulio am schönen Ortasee im Nordosten des Piemonts, unweit des Lago Maggiore: Viel zu sehen, viel zu genießen.
Schöner urlaubswohnen am Ortasee: Mein Lieblings-B&B am Ortasee.
Goldene Herbsttage im Piemont: Tipps für Ausflüge vom Ortasee in die mittelalterliche Oberstadt von Biella, in den dramatisch schön gelegenen Wallfahrtsort Oropa, in die Karneval-Stadt Ivrea, nach Domodossola mit seinen mittelalterlichen Laubengängen und in das landschaftlich beeindruckende Ossola-Tal mit kunsthistorischen Highlights – und für einen Abstecher in die Lombardei, an den schönen Lago di Como.
Das hübsche Bergstädtchen Varallo mit seinem Sacro Monte ist eine unbedingte Empfehlung!
Wenn Turin lockt, dann sollte man nicht widerstehen...